Das Gesicht des Fremden by Anne Perry

Das Gesicht des Fremden by Anne Perry

Autor:Anne Perry [Perry, Anne]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-01-09T05:00:00+00:00


7

»Guten Morgen, Miss Latterly«, sagte Fabia kühl, als sie am folgenden Morgen gegen Viertel nach zehn im Wohnzimmer erschien. Sie sah elegant und zerbrechlich aus und war bereits zum Ausgehen angezogen. Nachdem sie mit einem flüchtigen Blick auf Hester deren schlichtes Musselinkleid zur Kenntnis genommen hatte, wandte sie sich Rosamond zu, die an ihrem Stickrahmen herumstocherte. »Guten Morgen, Rosamond. Du fühlst dich hoffentlich wohl? Es ist ein sehr schöner Tag. Ich glaube, wir sollten die Gelegenheit nutzen, um den weniger vom Glück verwöhnten Dorfbewohnern einen Besuch abzustatten. Wir haben es lange nicht mehr getan, und du bist im Grunde noch mehr dazu verpflichtet als ich, meine Liebe.«

Rosamonds Wangen wurden eine Spur röter, während sie den Rüffel demütig hinnahm. Sie reckte lediglich das Kinn ein wenig, und Hester fragte sich, ob vielleicht mehr hinter dieser Gebärde steckte, als man auf den ersten Blick annahm. Die ganze Familie war in Trauer, aber Fabia hatte der Verlust eindeutig am stärksten getroffen – zumindest für den außenstehenden Beobachter. Hatte Rosamond das normale Leben für ihren Geschmack zu früh wiederaufgenommen, und das war Fabias eigene Art, den Zeitpunkt für gekommen zu erklären?«

»Natürlich, Schwiegermama«, erwiderte Rosamond, ohne aufzublicken.

»Miss Latterly wird sich uns selbstverständlich anschließen«, fuhr Fabia fort, ohne deren Einverständnis abzuwarten. »Um elf Uhr fahren wir los. Sie haben also genug Zeit, sich entsprechend anzuziehen. Es ist recht warm draußen – lassen Sie sich nicht dazu verleiten, Ihren Rang zu vergessen.« Nach dieser mit frostigem Lächeln vorgebrachten Warnung wandte sie sich zum Gehen, blieb jedoch bei der Tür noch einmal stehen und fügte hinzu: »Vielleicht nehmen wir das Mittagessen bei General Wadham und seiner Tochter Ursula ein.« Dann schwebte sie endgültig aus dem Zimmer.

Rosamond schleuderte die Stickerei in ihren Handarbeitskorb, doch sie prallte daran ab und rutschte scheppernd über den Boden. »Verflucht!« sagte das Mädchen mit verhaltener Stimme, fing Hester’s Blick auf und entschuldigte sich eilends.

Hester lächelte und meinte freimütig: »Oh, lassen Sie nur. Bei der Vorstellung, die gute Fee bei den armen Dörflern spielen zu müssen, würde wahrscheinlich jeder in eine Sprache verfallen, die eher in die Stallungen paßt.«

»Fehlt Ihnen die Krim, jetzt, wo Sie wieder zu Hause sind?« fragte Rosamond unvermittelt; sie schaute Hester forschend, beinah furchtsam an, als habe sie Angst vor der Antwort. »Ich meine –« Aber es fiel ihr plötzlich schwer, die Worte auszusprechen, die ihr gerade noch auf den Lippen gelegen hatten, und sie wandte beschämt den Blick ab.

Hester hatte die Vision eines Lebens, das aus endlosen Tagen des Nettseins gegenüber Fabia bestand, aus dem bißchen Haushaltsführung, das Rosamond gestattet war, ohne daß sie dabei jemals das Gefühl hatte, es sei ihr Haus, solange Fabia lebte. Vielleicht würde deren Geist sogar danach noch allgegenwärtig sein. Morgendliche Pflichtbesuche mußten gemacht, das Mittagessen mit Leuten von gleichem Stand eingenommen, die Armen frequentiert werden und während der Saison gab es Bälle, Rennen in Ascot, die Regatta in Henley und im Winter natürlich die Jagd – alles ohne Sinn und Bedeutung.

Aber Rosamond hatte weder eine Lüge erwartet, noch verdiente sie das, was Hester für die grausame Wahrheit hielt.



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